1985 ging ich in die dritte Klasse und trug das blaue Halstuch als Zeichen der Jungpioniere. Ich las schon damals für mein Leben gern, meist Tiergeschichten, und auch an die Hefte mit den Geschichten von Lolek und Bolek, zwei polnischen Trickfilmfiguren, kann ich mich noch sehr gut erinnern. Um an besondere Bücher zu kommen, benötigte man in der DDR gute Beziehungen oder reichlich Kohle zum richtigen Zeitpunkt. René, Held des Romans „Skizze eines Sommers“ von André Kubiczek, legt schon einmal stramme 60 Mark für eine Baudelaire-Ausgabe aus dem westlichen Hanser-Verlag hin, die es dank der Leipziger Buchmesse in den Buchhandel geschafft hat und im Geschäft wie ein kostbarer Schatz präsentiert wird – was er für seinen künftigen Besitzer ja auch ist. Jene heiteren, aber auch die Verhältnisse in der DDR widerspiegelnden Episoden lassen sicherlich bei dem einen oder anderen Leser persönliche Erinnerungen entstehen, aber „Skizze eines Sommers“ ist vor allem ein Buch über einen Jugendlichen, der sich findet.
Denn René, der sich meist in schwarze Klamotten hüllt und die in der DDR verpönte dekadente und nihilistische Literatur, meist französische Klassiker, förmlich verschlingt, ist nicht unbedingt ein „normaler“ Junge. Der 16-Jährige hat als Kind seine Mutter an den Krebs verloren, sein Vater, der in die Schweiz zu einer Friedenskonferenz gerufen wird, lässt seinen Sohn gleich einmal mehrere Wochen allein in der gemeinsamen Wohnung in Potsdam zurück, allerdings mit einer nicht unerheblichen „Ferienkasse“ in Form mehrerer Scheine. Langeweile kommt nicht auf: René weiß mit Dirk, Mario und Michael einige Kumpels um sich, mit denen er sich die Zeit vertreibt, herumhängt, in die Disco geht. Und da sind ja auch noch Mädchen, die die Jungs umschwirren. René pendelt hin und her, ist von der düsteren Rebecca, der lebensfrohen Bianca und der Seelenverwandten Victoria gleichermaßen fasziniert. Bis er das richtige Mädchen an seiner Seite weiß, vergehen einige Wochen, wird er von Ratschlägen seiner Freunde förmlich überschüttet, verlassen einige der Angebeteten die Stadt in Richtung Urlaub. René bleibt hingegen zurück, bis er mit Mario zu einer kleinen Tour nach Thüringen aufbricht, um dessen Freundin Connie zu überraschen.
Die besonderen Ereignisse sind im Roman recht überschaubar, an einer Stelle betont René, zugleich Ich-Erzähler, dass der Sommer zwar monoton, aber doch recht „schön“ sei. Er ist allein, von vertrauten Dingen umgeben und hat damit auch die Möglichkeit, sich auszutesten – in Sachen Freundschaft und Liebe, in Sachen Alkohol und Zigaretten, so wie man sich eben das Jugendlichsein vorstellt. Die Zeit der Handlung, das Jahr 1985, wird in einigen Anmerkungen mit Verweis auf geschichtliche Ereignisse sichtbar: der Bergarbeiter-Streik in England, der Contra-Krieg in Nicaragua, die Wahl Michael Gorbatschows zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion. Mit Verweisen auf die Bedingungen und den Alltag in der DDR hält sich Kubiczek maßvoll zurück, was sympathisch erscheint. Plattenbauten und Konsum, Mangelwirtschaft und Subbotnik sowie die Kluft zwischen Proletariat und Intelligenz lassen Ort und Zeit erkennen. Er scheint das Siegel „Roman über die DDR“ nicht zu benötigen. Weil auch die persönliche Geschichte der Jugendlichen viel interessanter erscheint und in den Vordergrund rückt. Renés Bericht begeistert dabei dank seines wunderbar frechen Charmes, der zwischen Lebensfreude und Melancholie hin und her pendelt, mal einen ganz feinen Humor, mal eine gewisse Nachdenklichkeit offenbart. Er lässt seinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf, ist noch immer vom Tod der Mutter gezeichnet, wird später von einer herben Liebeserfahrung schockiert sein. Die neuen, aber eigentlich schon früher empfundenen „Schmetterlinge im Bauch“ für Victoria werden ihn verändern. Seine Grundehrlichkeit in Richtung Leser und die Einblicke in sein Seelenleben, auch in der Gefahr hin sich zu blamieren, imponieren ungemein.
„Und ich dachte, ja, sie hatten total recht, die Triffids, wenn man nicht selber eingehen wollte vor lauter Kummer und Elend im Herzen, dann musste man eben das töten, was man nicht bekam. Man musste es aus seiner Erinnerung reißen und nicht erst warten, bis es nach Jahren von selbst verblasst war. Man musste das mit Gewalt tun und so schnell, wie man ein Pflaster abriss von einer verkrusteten Wunde. Zack.“
Begleitet wird der Roman von seinem eigenen Soundtrack, in jedem Teil des Buches und auch innerhalb der Handlung finden sich Zitate aus Songs dieser Zeit, den Lieblingstiteln Renés – von den Simple Minds bis hin zu The Smiths. Auch Bibliophile werden auf ihre Kosten kommen, spielt doch die Hingabe zur Literatur in einigen Szenen eine ganz wesentliche Rolle. Mit dem Ende der Ferien und dem Abschluss des Romans – für René brechen andere Zeiten an – entsteht beim Leser ein gewisses melancholisches Gefühl, denn Held und Ich-Erzähler, auch seine gewisse Plapper-Laune, hat man lieb gewonnen. Eine Fortsetzung sollte deshalb unbedingt her.
Der Buchpreisblog verlost ein Exemplar von „Skizze eines Sommers“. Wer dieses gewinnen möchte, hinterlässt bis zum Freitag, 28. Oktober, einen Kommentar, vielleicht mit einigen Erinnerungen an den Sommer 1985.
Besprechung von: Constanze Matthes, Betreiberin des Blogs „Zeichen & Zeiten“
André Kubiczek: „Skizze eines Sommers“ erschien im Rowohlt Verlag, 384 Seiten, 19,95 Euro